Appell für Toleranz inmitten düsterer Bürgerkriegsszenerie
Fachschaft Deutsch
Das Rattern von Maschinengewehren, Nebelschwaden in der Luft und Blechkisten wie in einem Militärcamp – die Inszenierung des Klassikers „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing, die das Ensemble des Jungen Theaters Göttingen im Stader Stadeum (29.01.2018) auf die Bühne brachte, erinnerte auf beklemmende Weise an Fernsehberichte über islamistische Gotteskrieger. Dies empfanden auch die Schülerinnen und Schüler unserer Jahrgangsstufen 11 und 12, die dieser Aufführung mit ihren Deutschlehrkräften kürzlich beiwohnten.
Lessings 1783 uraufgeführtes Schauspiel, das für mehr Verständnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam untereinander wirbt, hat sich seine Aktualität bis heute bewahrt. Und dem Regisseur Tobias Sosinka und der Göttinger Theatergruppe gelang es mit ihrer Inszenierung, trotz seines sehr minimalistischen Bühnenbildes, das neben den Blechkisten vor allem aus dem gekonnten Spiel von Dunkelheit und genialer Lichtführung bestand, eine zum Teil bedrückende Atmosphäre herzustellen und das Stück des Aufklärers Lessing über religiöse Toleranz so zu interpretieren, dass sich dem Zuschauer der Bezug zu den aktuellen Ereignissen im Nahen Osten geradezu aufdrängte.
Das Stück spielt in Jerusalem gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Sultan Saladin, dargestellt von Karsten Zinser im Milizen-Outfit, hatte die Stadt zuvor den Kreuzrittern entrissen. Das christliche Heer belagert nun erneut die Heilige Stadt, um sie von den Muslimen zurückzuerobern. Mittendrin in diesem Konflikt stecken die Juden.
Um das schwierige Verhältnis dieser drei Religionen zueinander dreht sich auch die Schlüsselszene dieses Stücks, die sogenannte Ringparabel: Der jüdische Händler Nathan (ein überzeugender Auftritt von Jan Reinartz) wird von Saladin, der sich in einer finanziellen Notlage befindet, durch eine Fangfrage, die ihm unproblematisch Geld beschaffen soll, gefragt, welche Religion er für die einzig „wahre“ halte. In seiner Erzählung von den drei gleich aussehenden Ringen schlägt Nathan den Bogen zu den Religionen und kommt zu dem Ergebnis, dass alle drei Glaubensrichtungen gleichwertig seien.
Dass diese Botschaft der Toleranz heutzutage wichtiger denn je ist, macht die Inszenierung in eindrucksvoller Weise deutlich. Die Akteure auf der Bühne könnten einem realen Bürgerkrieg, wie er sich derzeit in den Ländern des Nahen Ostens oder auch anderswo in der Welt abspielt, entsprungen sein.
Auch wenn die Machtverhältnisse in Jerusalem heute anders sind, herrschen in der Region nach wie vor religiöser Hass und Gewalt. Wenn Nathan in der Eingangsszene in kugelsicherer Weste erscheint, dann ist die Symbolik, die der Regisseur Tobias Sosinka gewählt hat, nur allzu deutlich.
Wie sehr religiöser Fanatismus das Miteinander vergiften kann, zeigt sich auch an der Person des Tempelherrn: Peter Christoph Grünberg tritt als religiöser Eiferer auf, der für den christlichen Glauben in den Krieg gezogen ist. Der Tempelherr hatte Nathans Ziehtochter Recha (Kathrin Müller-Grüß mit einer soliden Leistung) aus den Flammen ihres brennenden Wohnhauses gerettet, wollte aber nichts von ihr wissen, als er erfuhr, dass sie die vermeintliche Tochter eines Juden ist.
Erst als er durch Daja (Agnes Giese – sehr ambitioniert), eine Christin im Hause Nathans, aufgeklärt wird, dass Recha Kind christlicher Eltern ist, verliebt er sich in sie. Doch am Ende des Stückes stellt sich heraus, dass beide Geschwister sind, und es kommt am Schluss zur Versöhnung aller Protagonisten der drei Religionen.
Beim Zuschauer hinterlässt das Stück eine gewisse Beklommenheit, denn bekanntlich ist ein Happy End, wie es Lessing in seinem Stück dargestellt hat, auch heute noch angesichts der politischen Lage in der Region utopisch. Lessings Appell zu mehr Toleranz erscheint wie eine Botschaft aus einer fernen Welt – aber auch nach ca. 200 Jahren immer noch aktuell.
Dieses Gefühl wird durch die Entscheidung des Regisseurs, das Drama in der Sprache des späten 18. Jahrhunderts zu belassen, noch verstärkt. Aktuelle Bezüge erlangt die Inszenierung durch das Bühnenbild, die akustischen Einspielungen und das zum Teil militante Auftreten der Schauspieler. Eine sprachliche Überarbeitung des Stücks hätte vielleicht besser zu der bedrückenden Szenerie gepasst.
Insgesamt bot das Theaterstück jedoch allemal die Gelegenheit zu vielfältigen Diskussionen und stellte eine angemessene Vertiefung der im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse über den Lessingschen Dramentext dar.