Rezension: “Woyzeck” von Georg Büchner
Von Jette Janke
Die Leistungskurse der Sekundarstufe ll des Aue-Geest Gymnasiums Harsefeld besuchten Mitte Dezember (14.12.2022) im Rahmen des Deutschunterrichts das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, um ihre im Unterricht erarbeiteten Deutungsansätze des Dramas mit einer Interpretation dieser Inszenierung zu erweitern. Dazu im Folgenden eine Rezension der Aufführung von einer Teilnehmerin an dieser Theaterfahrt:
Hörnchen, Highheels und Femizid: Woyzeck in vollkommen neuem, pinkem Licht
Eine neue Fassung von Georg Büchners Drama “Woyzeck” der Theaterregisseurin Lucia Bihler und Mats Süthoff schockt mit grellen, bunten Bildern, die ein neues Licht auf den Dramenklassiker werfen. Beide untersuchen die scheinbare Vorherbestimmung des Handelns der Hauptfigur Woyzeck in einer Art Versuchsanordnung, bei der sie diesen in einem Loop gefangen halten.
Seit seiner Premiere am 29. Oktober löst das Stück Rezensionen und Kritiken aus, die die Presselandschaft mit Titeln wie “Klassiker fährt gegen die Wand” und “psychedelisch-hypnotischer Trip zwischen Gotik, Gewalt und Geisterbahn” fluten, sodass sich die Frage stellt, inwiefern Lucia Bihler mit ihren Hörnchen tragenden und Zunge wackelnden Figuren zum einen an ihrer Idee, das Drama unter dem Aspekt der Gesellschaftskritik hinsichtlich Femizid zu beleuchten, an der Intention von Georg Büchner vorbeirauscht oder zum anderen tatsächlich ein präzises Meisterwerk mit der perfekten Mischung aus verstörender Groteske und Faszination erschafft.
Das Drama Büchners analysiert, unter welchen Bedingungen Gewalt entsteht. Als unehelicher Vater, gedemütigter Untergebener, Versuchsobjekt der Medizin und betrogener Liebhaber wird ein Opfer zum Täter. Woyzeck ist Gefangener im Netz seiner Gesellschaft und wird von Stimmen und Geigen verfolgt, sodass er nur einen Ausweg sieht: seine Freundin zu erstechen.
Dieser Verlauf der Geschichte erscheint determiniert, doch Lucia Bihler untersucht, inwiefern Woyzeck Einfluss nehmen und dies ändern kann. Damit thematisiert sie strukturelle Gewalt von Männern an Frauen in Deutschland und will Bewusstsein dafür schaffen, dass Femizid ein stets präsentes Muster in unserer Realität darstellt.
Das Stück beginnt mit dem Mord Woyzecks an Marie, dem Ereignis auf das sein Leben gerichtet zu sein scheint. Erst danach wird die Vorgeschichte dargestellt, wie es zu dieser Entscheidung Woyzecks kam. Diese wird in mehreren Durchläufen gespielt, wobei sich Woyzecks Verhalten von Durchgang zu Durchgang entwickelt.
Die Szenen sind getrennt durch ein Zwischenspiel, bei dem auf eine Leinwand ein Auge mit roter Iris und blonden Wimpern geworfen wird, dass wirr um sich blickend den reinen Wahnsinn verkörpert. Dieser Effekt wird mit dem lauten Schlagzeug untermalt und nach dem Ende eines Durchlaufs der Handlung fragt eine Stimme: “Nochmal?”. Dann beginnt derselbe Durchlauf aller Szenen — mit identischen Bewegungen und Texten -, sodass das gesamte Stück aus drei Durchläufen besteht.
Die knapp skizzierten Szenen weichen dabei immer ein wenig voneinander ab und es scheint, als wären sich die Figuren der Wiederholung bewusst, da zum Beispiel Woyzeck irgendwann dem Hauptmann und dem Doktor die Worte aus dem Mund nimmt und zunehmend träge die Demütigungen erträgt, die ihm schon bekannt zu sein scheinen. Er trifft neue Entscheidungen und wird dadurch nach und nach dazu gebracht, sich ganz am Ende gegen den Mord an Marie zu entscheiden.
Das Gefühl von Zeit verliert sich, die Szenen werden nur durch die Uhr an der Wand geordnet, die unterschiedliche Uhrzeiten für die jeweiligen Szenen anzeigt. Die Abläufe wiederholen sich und dabei spielen Dämonen Woyzecks an der Uhr, sodass einige Elemente des Stücks in Zeitraffer, aber auch in Zeitlupe integriert sind. Woyzecks Albtraum von einem Leben wird immer und immer wieder erlebt. Die Qual, die er dabei durchmacht, steigert sich und er erkennt mit der Zeit, dass er ein Gefangener darin ist.
Der geistige Wahnsinn wird vor allem durch das Bühnenbild betont. Es besteht aus einem Schaukasten über der Bühne, komplett in knallend pinkem Leder an den Wänden ausgekleidet, mit einem Tisch und Stühlen derselben Farbe als einziges Mobiliar. Der Schaukasten dreht sich und zeigt zwei Räume, identisch eingerichtet, mit kleinen Kammern dazwischen. Dieses Element wird mit Woyzecks zunehmendem Wahnsinn vermehrt genutzt, wobei sich dieser darin verläuft und von Raum zu Raum irrt, sich also folglich stets nur im Kreis bewegt.
Passend zu der abstrakten, ausdrucksstarken Darstellung in kräftigen Neonfarben wurden die Geschehnisse in grünes, rotes oder pinkes Licht getaucht. Das Gesamtbild des Stücks ist also eine knallige, augenreizende Gummizelle, dazu kommt in den Zwischenspielen das verrückte Auge und das Schlagzeug als anleitende Elemente, wenn ein Durchlauf vorbei war.
Diese ständige Wiederholung stand im Publikum unter großer Kritik. Die marginalen Veränderungen der einzelnen Durchläufe konnten die Monotonie des Stückes nicht ausgleichen, was das Publikum in diesem Fall negativ wahrnahm. Das ausschließlich pinke Bühnenbild und die schrille und abstrakte Wirkung werden teilweise als schwer zu ertragen beschrieben. Zum Schluss wurden Rufe aus dem Publikum hörbar, als eine Figur eine weitere Wiederholung andeutete.
Die verstörende Wirkung des Theaters verfehlt also ihr Ziel, den in unserer Gesellschaft verbreiteten Femizid zu kritisieren, da das Publikum durch die abstoßende Gestaltung nicht mehr als irritiert und abgeneigt reagierte. Das Thema Femizid rückt völlig in den Hintergrund, stattdessen verausgabt sich die Regisseurin an der Gestaltung von Lack- und Glitzer-Kostümen mit kniehohen Highheels sowie krallenartigen Fingernägeln und Teufelshörnchen. Bettina Stucky, die Darstellerin von Marie, trug zum Beispiel ein unangebracht enges, grünes Minikleid und alle Figuren besitzen einheitlich hellblonde Haare.
Was ebenfalls sehr schockierend im Publikum ankam war, dass die Darsteller live auf der Bühne rauchten und es sei unangenehm gewesen, zuzuschauen, als in mehreren Situationen einfach Stille herrschte und die Spieler sich gegenseitig mit der Zunge wackelnd anstarrten. Hier stellt sich die Frage, was die Inszenierung in diesen Aspekten noch mit Woyzeck oder dem Thema Femizid zu tun haben soll, was auch von vielen Kritikern scharf bemängelt wird. Weiterhin bewegen sich die Figuren ausschließlich in den Gummizellen, in die das Publikum zum Teil nur begrenzten Einblick hat.
Obwohl überwiegend Kritik und Enttäuschung geäußert werden, dürfen die Hauptdarsteller Josef Ostendorf und Bettina Stucky als Woyzeck und Marie dagegen gelobt werden, die trotz der bemängelten Regie großartig schauspielerten. Obwohl das Stück doch generell als Flop bezeichnet wurde, standen sie überzeugend und absolut souverän auf der Bühne.
Abschließend zeigte sich der Deutsch-Leistungskurs des Aue-Geest Gymnasiums enttäuscht, nichts von der ursprünglichen Fassung Büchners gesehen zu haben, denn von dem Original sei aus Schülersicht nicht viel übrig geblieben: Der Text der Akteure bestand zwar aus den Zeilen Büchners, diese seien jedoch aus einzelnen Szenen herausgeschnitten und vermischt worden, sodass die einzelnen Szenen mehreren Gegenstücken gleichzeitig im Drama zugeordnet werden können.
Als es in der Neuinszenierung auch noch zu einem Kuss zwischen Woyzeck und dessen Freund Andres kam, gelangten einige Schüler zu dem Schluss, Georg Büchner drehe sich im Grab um. Auch die Entfremdung durch die visuelle Gestaltung des Stückes erzeugt einen dramatischen Unterschied zu dem 200 Jahre alten Stück. Diese völlig neue und verrückte Interpretation des Dramas “Woyzeck” war also — neben einer abgedrehten Horizonterweiterung — nicht geeignet für eine konstruktive Erleuchtung der Schüler bezüglich des Büchnerschen Woyzecks.