Auf Abwegen: Unterprima im “Blauen Engel”
Das auf den ersten Blick „höchst skandalös“ erscheinende Ansinnen von OStR´ Margret Althaus, OStR´ Kati Bente und OStR Diedrich Hinrichs, die gesamte Jahrgangsstufe 11 unseres Gymnasiums zu einem Besuch im „Blauen Engel“ zu ermuntern, verfolgte genauer betrachtet dann doch erkennbar hehre Bildungsabsichten. Denn vorrangig galt dieser selbstverständlich dem Zweck, dass ihre Schülerinnen und Schüler auch außerunterrichtlich detaillierte Charakter- und Milieustudien anzustellen vermögen, und zwar in diesem recht speziellen Falle im Theater. Und statt der hölzernen Stühle in einem verruchten Hafen-Varieté, in dem mehr oder weniger talentierte Zauberer und freizügige Chanteusen ihre Kleinkunst darbieten, waren für das „Gastspiel“ der Harsefelder Gymnasiasten die bequem gepolsterten Plätze in den gut besetzten Publikumsrängen der Aula der Buxtehuder Halepaghenschule vorgesehen.
Dort gelangte nämlich eine Bühnenfassung von Heinrich Manns „Professor Unrat“ (erstmals erschienen im Jahre 1905) zur Aufführung, die in ihrer Bearbeitung von Peter Turrini sowohl den Roman als auch den unter dem Titel „Der blaue Engel“ von Josef von Sternberg in den 1930er Jahren gedrehten Film zur Vorlage hat. Protagonist der bis zu seiner Hochzeit mit der jungen Sängerin Rosa Fröhlich (Künstlername Lola Lola) dem Film weitgehend folgenden Bühnenhandlung ist der von seinen Schülern gleichwohl gefürchtete wie verspottete Professor Immanuel Rath, ein wahrer „Gymnasiastenschreck“ oder — wie es Heinrich Mann selber ausdrückte — ein „lächerliches Scheusal“. Er schwebt quasi als personifiziertes Schicksal über den Köpfen ganzer Schülergenerationen seiner Kleinstadt, wittert allerorten Rebellion und Widerstand, den es zu brechen gilt, und trachtet ausschließlich danach, seinen Schülern „auf die ein oder andere Art im Leben hinderlich zu sein“.
Einen Ansatzpunkt dafür bieten ihm dann auch die beiden Schüler von Ertzum und Lohmann, die sich nächtens in einem in der Kleinstadt einschlägig bekannten Vergnügungslokal aufhalten und anderentags unvorsichtigerweise Bilder der dort auftretenden Sängerin Lola in der Schule mit sich führen. Um der Künstlerin daraufhin ins Gewissen zu reden, begibt sich der pedantische und paranoide Pädagoge auf die Suche nach diesem Ort aller Lasterhaftigkeit und Verworfenheit und begegnet in der Hafenspelunke „Zum Blauen Engel“, einer ihm selber völlig wesensfremden Welt der Verheißung und des Genusses, auch seinen beiden Schülern.
In dem sich nachfolgend entwickelnden Machtkampf um die Alleinherrschaft in der Künstlergarderobe scheint der Professor zunächst zu obsiegen: Er verliebt sich in die Sängerin und krempelt auf radikale Weise sein bisher so biederes Leben um. Aber nach seiner Heirat mit ihr schwindet sein gesamtes Vermögen ebenso schnell wie die Liebe Lolas zu ihm. Dieser Umstand zwingt ihn dann eines Tages — mittlerweile auch den brotlosen Künsten nachgehend und zum „dummen August“ in der Tingeltangel-Truppe um Lola avanciert — in seiner alten Heimatstadt aufzutreten. Mit dem erneuten Aufeinandertreffen zwischen ihm und seinem ehemaligen Schüler Lohmann endet die Geschichte dort, wo sie für Immanuel Rath begann: im „Blauen Engel“. Und mit seinem gewalttätigen Ausbruch zeigt sie die Figur am Schluss des Bühnenstückes jämmerlich und auf eine fast mitleiderregende Art und Weise tragisch gescheitert.
Die Schülerinnen und Schüler fühlten sich — so ihre geäußerten Eindrücke — durchwegs recht gut unterhalten, meldeten aber aufgrund ihrer Romanlektüre von Heinrich Manns „Professor Unrat“ im Unterricht schon einmal weiteren Gesprächsbedarf an (Lesart als „Gesellschaftsroman“ oder „Schulsatire“). Auch blieben ihnen kleinere Schwächen der Inszenierung und Unstimmigkeiten nicht verborgen: Zwar sei der Niedergang des Professors, sein gesellschaftlicher Absturz, gut erkennbar gewesen und schauspielerisch eindringlich „gespielt“ worden, die Rolle der „feschen Lola“ dagegen hätte man sich aber dominanter und noch kraftvoller gewünscht. Der „blaue Engel“ geriet zumindest für einige unserer jungen Theaterbesucher — wohl ein Indiz für ihre historische Distanz zum Text, vielleicht sogar auch seiner sittlichen Unbedenklichkeit für die heutige Schülergeneration — zu einem alles in allem recht „braven Engel“.